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Samstag, 3. September 2011

Wo ist die Zeit hin?

Ja, wo ist sie? Die Zeit. Grad eben war sie doch noch hier. Direkt vor mir. Und jetzt liegt sie schon hinter mir. Elfeinhalb Monate. Und irgendwie kommt es mir trotzdem erst wie gestern vor, als ich am neunzehnten September Zweitausendzehn in Cartagena aus dem Flugzeug stieg und erst mal mit meinen Händen ungläubig die Luft betastete. War ich wirklich draußen, unter freiem Himmel und nicht im Tropenhaus irgendeines Zoos? Nach der ersten Dusche kamen die ersten ernsten Zweifel auf, ob ich dieses feuchte Klima ein Jahr lang aushalten konnte, da ich erstens in dem kleinen durch das Duschen noch feuchtere Bad kaum Luft bekam, ich mich zweitens in meine Jeans nur mit sehr viel Mühe hinein quetschen konnte und drittens mein Haar erst in den frühen Abendstunden richtig trocken wurde während der Rest meines Körpers -weil mit einem beständigen Film von Luftfeuchtigkeit uns Schweiß bedeckt - gar nicht trocknete. Aber nach ein oder zwei Wochen war das vergessen und mittlerweile frage ich mich, wie ich wohl das Klima in Deutschland überleben soll. Oh, ja ich glaube es wird ein sehr, sehr harter Winter für mich.

Ich habe um die 2000 Luftballons aufgeblasen, unzählige Plakate gebastelt, Passfotos von fast 100 Kindern gemacht, für amerikanische Ärzte übersetzt, fußballspielenden Jungen mit Essen und Trinken versorgt, Betten bezogen und Laken gewaschen, einen Malkurs mit der Jugend gemacht, aufgeräumt, geputzt, mit der Jugend deutsche Weihnachtsplätzchen gebacken, Begrüßungs- und Dankeskarten gebastelt, die Straßen Loma Frescas von Müll befreit, unzählige Teller mit Essen ausgegeben, Wasser nachgeschenkt, mich einmal die Woche bei sengender Hitze den Berg auf dem die Familien leben gequält, eine wilde Horde Kinder ins Kino begleitet und bei der sachgerechten Benutzung der Wasserhähne geholfen, Boden zementiert, in den Kleingruppen für Ordnung und Disziplin gesorgt, bei den Hausaufgaben geholfen und mitten in der Nacht Wasser geschippt.
Und das nur auf meiner Arbeit. Auch wenn die Freizeit teilweise wirklich knapp bemessen war (gearbeitet wird 5 Tage die Woche von acht bis fünf und um sechs, spätestens halb sieben ist es dunkel…) habe ich trotzdem genügend Zeit gehabt die ganze kolumbianische Kultur zu erleben.
Hab Preise verhandelt, Obst von Straßenhändlern gekauft, gelernt, dass es mehr als nur eine Sorte Bananen gibt, habe gelernt dass Coca Cola (= schwarz, koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk) nicht gleich Kola (= knallrotes, chemisches, dezent überzuckertes Erfrischungsgetränk) ist und dass die Grundzutat für kolumbianische Säfte Zucker ist. Ich habe feststellen müssen, dass man auf der sonnigen Seite des Lebens in Kolumbien alleine geht, da die Straßenseite, die im Schatten liegt immer völlig überfüllt ist, während man auf der sonnigen Seite alleine vor sich hin brät. Das liegt abgesehen von der unerträglichen Hitze daran, dass hier schick ist, so weiß wie möglich zu sein. Dem Braunwerden wird unter anderen mit Sonnencreme mit Lsf 100 und Sonnenschirmen, die wie ein Regenschirm getragen werden entgegengewirkt – und eben der Flucht in den Schatten. Das Konzept des „sich sonnen“ stößt daher auf absolutes Unverständnis. Ansonsten habe ich noch die vielfältigen Benutzungsmöglichkeiten der Hupe kennengelernt, die ganz gewöhnlich als Gefahrensignal, aber auch als Musikinstrument, Beschimpfungshilfe, Flirthilfe oder auch einfach nur zum vertreiben der Langeweile dienen kann. Meistens bedeutet sie allerdings nur „Achtung, ich komme“. So kommen die Busse, die vor meinem Haus vorbeifahren, mit einem Affenzahn um die Kurve, fangen dann ungefähr auf Höhe unseres Hauses (ca. 50 m bis zur Kreuzung) wie verrückt an zu hupen, um anschließend ca. 2 Meter vor Auftreffen unserer Straße auf die verkehrsreiche Hauptstraße unter lautem Getöse den Bremsvorgang einzuleiten. Da wackeln auch schon mal die Wände.
Auf einem Kaffeejeep in der Kaffeezone...
Und wo wir beim verrückten Verkehr in Kolumbien sind: Den habe ich auch zu Genüge kennengelernt. Denn um in Kolumbien von A nach B zu kommen gibt es gefühlt unendlich viele Möglichkeiten, manche davon zivilisiert, manche weniger. So bin ich zum Beispiel ganz zivilisiert im Taxi gefahren, aber auch weniger zivilisiert mit besagten Bussen (untermalt von musikalischen Beiträgen von Pitbull oder Don Omar), auf dem Mototaxi (mal mit vertrauenserweckendem Helm mal mit einem weniger vertrauenserweckenden), im Colectivo (Jeepsammeltaxi), im Fahrradtaxi, mit dem schnellen Schnellboot, mit dem langsamen Schnellboot, im klapprigen Auto eines wildfremden Typen (den wir im Supermarkt an der Kasse kennergelernt haben und er uns ein Stück mitgenommen hat), im hohlen Baumstamm (nicht wörtlich, aber es war ein sehr schmales, langes, altes Holzboot), in der rollenden Tiefkühltruhe (nennt sich hier Überlandbus), mit dem Tuktuk - so eine  Art Motorrikscha, im Minivan eines Touristenführers, zu Pferde, in der Gondel, zu neunt im Auto mit mannsgroßer Bibel auf dem Dach und einem übermannsgroßen Holzkreuz an der Seite des Autos und zu zwölft und im Stehen auf der Ladefläche eines Jeeps.
Das allerunglaublichste aber, was ich dieses Jahr getan habe ist, dass ich in diesem Jahr tatsächlich – und das ohne es zu merken und mir erscheint auch ohne mein Zutun - irgendwie, spanisch gelernt habe.
Und genau jetzt wo ich wirklich ohne groß Nachzudenken spanisch sprechen kann, ich die komplizierten Namen fast aller Kinder kenne und zuordnen kann und gerade jetzt wo ich mich endlich nicht mehr heillos im Centro, der Altstadt verlaufe da heißt es: ab nach Hause.
Trotzdem versuche ich gerade noch meine letzte Zeit in Cartagena auszunutzen. Urlaub hab ich ja keinen mehr, aber während die anderen den Amazonas erkunden, hab ich einfach Urlaub in der eigenen Stadt gemacht. Ich und eine Mitfreiwillige haben unsere Sachen gepackt und eine Nacht in einem Hostel in der Altstadt übernachtet, wie echte Backpacker… Da durfte ich auch wieder mal feststellen, dass die Welt ein winziges Dorf ist. So kann es zum Beispiel passieren, dass man in seinem Hostel 8-bett Zimmer in Cartagena, Kolumbien eine wildfremde Frau aus Guatemala trifft und sich dann herausstellt, dass sie einen Bruder hat, der an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf studiert – wo auch ich ab Oktober studieren werde.
Der besagte Schlauch...
Dann haben wir noch am letzten Wochenende ein Haus, das auch zu unserem Projekt gehört und auf einer Insel liegt besucht. Das wurde vor Jahren gebaut, aber der ursprüngliche Plan für die Benutzung ist dann nicht zustande gekommen und jetzt ist es unbenutzt. Das war schön, mal dem Stadtgetümmel zu entkommen und einfach mal einen Tag nur im grünen Nirgndwo zu sein.  Ganz besonders interessant war allerdings die Bootsfahrt zurück zum Festland. Das erste was einem absolute Sicherheit vermittelt hat, war der Name des Bootes: „Locura 2“ – „Verrücktheit 2“, dieses Gefühl der Geborgenheit wurde bekräftigt von der Tatsache, dass die Bootsbesatzung aus 3 „Kindern“ im geschätzten Alter von 13 – 17 Jahren bestand. Aber restlos sicher habe ich mich erst gefühlt, als ich gesehen habe, dass der Motor dadurch angetrieben wurde, dass das jüngste der Besatzungsmitglieder einen Benzinkanister zwischen seine Beine klemmte und dann einen aus dem Motor kommenden Schlauch einfach in den Kanister hineinhielt.
Tja, und nun bleiben mir gerade mal 16 mickrige Tage. Und in wenigen Stunden werde ich die neue Deutsche Freiwillige, meine Nachfolgerin, vom Flughafen abholen. Der Anfang vom Ende. Einerseits freue ich mich auf zu hause. Ich gehe in Frieden nach Hause. Die Zeit war schön, aber jetzt reicht’s auch. Aber andererseits macht mich der immer näher rückende Abflugtermin nervös. Denn obwohl ich ganze 24 Stunden unterwegs sein werde, ist es trotzdem ein bisschen wie beamen. Man wird aus der einen Welt herausgerissen und dann einfach in die andere geschmissen. Von der einen Realität in die Andere. Und es ist noch etwas ganz anderes, als die Situation, die ich vor einem Jahr hatte. Denn da hat etwas ganz neues auf mich gewartet und jetzt ist es das Alte was mich erwartet. Das mag verstehen, wer will, aber ich wette, dass jeder der schon mal länger im Ausland war ganz genau weiß. was ich meine. Und ich habe schon jetzt das Gefühl, dass es wahr ist, was man von Leuten die im Ausland waren immer hört: Wiederkommen ist schwerer als Weggehen.

Wahrscheinlich ist das nun wirklich mein letzter Blogeintrag aus Kolumbien sein. Außer meinem offiziellen Abschlussbericht. Den werde ich hier wohl auch posten. Und ansonsten könnt ihr mich all das andere, wovon ich hier nicht erzählt habe (wie könnte ich das jemals alles aufschreiben) ja ganz bald persönlich fragen.

Ein wohl letztes Mal ganz, ganz liebe Grüße aus der schönsten Stadt Kolumbiens – Cartagena.
Larissa